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„Das große Schrumpfen“

Hans Jürgen Luibl
Datum:
Veröffentlicht: 2.9.21
Von:
Ulrike Schwerdtfeger

Prof. Dr. Hans Jürgen Luibl sprach beim KKV Erlangen über die Zukunft der Kirchen

Corona hat(te) viele Unwägbarkeiten im Gepäck: „Wir sind andere geworden“, findet Prof. Dr. Hans Jürgen Luibl vom Institut für Praktische Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Auf Einladung des KKV Erlangen sprach der Leiter der Evangelischen Stadtakademie Erlangen sowie Pfarrer und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern zum Thema „Weniger, bunter, stärker. Die Wege der Kirchen in der Gesellschaft von morgen“.

„Die Kirche ist an einem toten Punkt angekommen.“ Diese Aussage von Kardinal Reinhard Marx in seinem Rücktrittsgesuch an den Papst habe Luibl stark beeindruckt, erzählt der 64-Jährige. Und bezieht sich damit auf die fehlende Gottesbeziehung innerhalb der Gesellschaft. Was die Kirche brauche, sei eine klare Positionierung, nicht nur in der Krise, findet Luibl. In Zeiten, in denen Menschen Wartemarken ziehen müssten, um aus der Institution Kirche austreten zu können und in denen sich immer weniger Menschen für den Pfarrberuf interessierten, gehe es darum, das „große Schrumpfen“ genauer zu betrachten: „Die Leute haben die Bindung verloren“, nennt Luibl das. „Aus dem Staat kann man nicht austreten – aus Parteien und Kirchen schon.“ Dadurch entfernten sich die Menschen, es gebe nur noch vereinzelte „Haufen“ oder Zirkel, den heiligen Rest: So entwickelten sich einst feste Burgen zu Sandburgen, gefährdet, von der nächsten Welle verschluckt zu werden. Lange schon sei die „Volkskirche“ Geschichte, zumal die Gesellschaft von heute alles genau unter die Lupe nehme und ethisch prüfe, was ihr „vorgesetzt“ werde: „Stimmt das, was ihr mir erzählt? Passt das zu meinem Leben? Ist das authentisch und glaubwürdig?“ Kirchliche Themen würden zunehmend ausdifferenziert, erklärt der Theologe: „Die Trinität ist nett, interessiert aber niemanden (mehr)“, so Luibl. „Und das Jüngste Gericht ist sowieso out.“ Themen wie Wiedergeburt und Seelenwanderung seien hingegen auf dem Vormarsch.

„Die Menschen wollen raus aus der klassischen Kirche“, weiß Prof. Luibl. „Man sucht etwas; es gibt durchaus ein religiöses Bedürfnis, das es neu zu formulieren gilt.“ Corona empfindet der Referent als Beschleuniger für all diese Entwicklungen. „Weniger die Kirchen, eher die Virologen haben uns in der Krise Orientierung geboten und unsere Fragestellungen ernst genommen“, gibt Luibl zu bedenken. „Von Kirchenleuten kam in dieser schwierigen Zeit kaum Trost“, kritisiert er. Und sieht auch weiterhin ein Bedürfnis nach Orientierung und Verlebendigung. „Wir haben das als Kirche nicht hin bekommen“, sagt er. „Wir haben keine Strategien im Umgang mit Krisen.“ Und schiebt gleich hinterher: „Warum schaffen wir es nicht, die Fragen der Menschen aufzugreifen in der Sprache, die ihnen Orientierung im Leben und im Sterben gibt?“ Da zu sein, wo Menschen etwa Verluste erlebten: „Wer hat all die (Corona-)Toten beerdigt, wer lebt mit den Hinterbliebenen, was trägt auch künftig, was brauchen die Menschen jetzt, wie geht die Gesellschaft mit Long-Covid um?“ Kirche, so ist sich Luibl sicher, lasse sich nicht reformieren, sie lebe vielmehr von dem, was die Menschen umtreibe.

Doch statt in die Auseinandersetzung zu gehen, reagiere sie abschottend und mit Sprachlosigkeit. „Einfluss, Deute-Kapazität und Resonanz sind weniger geworden. WENN Bischöfe sich mal zu Wort melden, hat das meist keinerlei Bedeutung“, so Luibl. Zudem sei der Religionsunterricht an den Schulen coronabedingt für Monate gestrichen worden. „Wo sind die Kräfte unserer Religion geblieben?“, fragt der Referent. „Wie stellen wir uns dem Staat gegenüber auf? Wie konfliktfähig sind die Kirchen wirklich?“ Luibl spricht von einer theologischen Krise, von einer spirituellen Krise, von einer Gotteskrise. Dabei habe die Kirche, so ist er überzeugt, das Zeug dazu, bunt, vielfältig und stark zu sein – wenn sie sich sensibel öffne, auch anderen Glaubensgemeinschaften gegenüber.