Freiraum für Sorgfalt schaffen
Meinungsbeitrag des Landesvorsitzenden Dr. Klaus-Stefan Krieger in "Gemeinde creativ" 6/2013
Schnelligkeit ist ambivalent. Sie ist entscheidend bei der Lebensrettung, bei der Behebung technischer Probleme oder bei der Übermittlung wichtiger Nachrichten. Sie kann aber auch zur Falle werden. In der globalen Finanzkrise haben wir es erlebt. Dass Computerprogramme automatisch in Sekundenbruchteilen riesige Wertpapierpakete kaufen und verkaufen, verursachte im Mai 2010 den Börsenkrach in New York. In den Medien hat die Sucht, als erster eine Neuigkeit zu verbreiten, dazu geführt, dass journalistische Grundregeln missachtet und ungeprüfte Behauptungen als angebliche Fakten in die Welt gesetzt werden.
Beide Beispiele weisen auf eine Ursache der Beschleunigung: Die modernen elektronischen Kommunikationsmittel haben unseren Alltag verändert. Wir können zu jeder Tag- und Nachtzeit an jedem Ort der Welt mit anderen Menschen in Kontakt treten, und zwar mit Menschen an jedem anderen Ort der Welt. E-Mail, Handy, Smartphone, Social Networks machen es möglich.
Das wirkt sich im Berufsleben aus. Vorgesetzte, Kollegen, Kunden melden sich, wann es ihnen passt – auch außerhalb der regulären Arbeitszeit. Schnelle Reaktion, kurzfristige Erledigung von Aufgaben, flexibler Arbeitseinsatz: Die Erwartungen der Betriebe an ihre Mitarbeiter, aber auch die Ansprüche von Mitarbeitern an sich selbst sind gestiegen. Experten sprechen von Entgrenzung der Arbeitszeit, Verschwimmen von Erwerbs- und Lebenswelt, Verschmelzung von Arbeitszeit und Privatleben.
Die negativen Auswirkungen der ständigen Verfügbarkeit sind inzwischen durch wissenschaftliche Untersuchungen (vor allem der Krankenkassen) belegt: Sind 85 % der Arbeitnehmer prinzipiell jederzeit erreichbar, wird etwa jeder zehnte Beschäftigte in der Tat täglich in der Freizeit mit dienstlichen E-Mails oder Telefonaten konfrontiert. Bei etwa 2 % aller Arbeitnehmer löst diese Belastung gesundheitliche Folgen aus, vor allem psychische Erkrankungen.
Auffällig: Die Beanspruchung steigt bis zu einer Verantwortung für 50 Mitarbeiter, dann sinkt sie wieder. Die Führungskräfte der mittleren Ebene stehen offenbar von zwei Seiten unter Druck. Ihnen rücken sowohl die einfachen Mitarbeiter als auch der Chef auf die Pelle.
Zum dauernden „Gewehr-bei-Fuß-Stehen“ kommen Hektik und Arbeitsverdichtung. Immer weniger Mitarbeiter müssen in immer weniger Zeit immer mehr Aufgaben bewältigen. Bei einer Umfrage des DGB unter 6.083 abhängig Beschäftigten gaben 63 % dies als eigene Erfahrung an. Früher mussten Entwürfe in Besprechungen abgestimmt, Pläne immer wieder erstellt, Texte neu geschrieben, Akten kopiert, Unterlagen per Boten oder Post, später per Fax verschickt werden. Heute lassen sich Dateien am PC bequem korrigieren und riesige Datenmengen mit Internettechnologie übermitteln. Diese Erleichterungen schaffen zugleich Druck: Man muss einen Wust – oft schlampig verfasster – Nachrichten sichten; Datenpakete werden an eine unnötig hohe Zahl von Empfängern (auf cc) verschickt; statt der Aufbereitung von Informationen gilt: „Lies‘ es halt selbst“. Der Wegfall von Zwischenschritten (und damit ganzer Berufszweige) erhöht die Fehlerquote, wie jeder Leser am Gewimmel der Druckfehler in vielen Zeitungen sehen kann.
Mittlerweile steuern Unternehmen gegen: Das Bundesarbeitsministerium hat sich verpflichtet, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur noch in Ausnahmefällen in ihrer Freizeit per Anruf oder E-Mail zu stören. Eine Betriebsvereinbarung bei VW bestimmt, dass der Mailserver nach Dienstschluss die Weiterleitung betrieblicher E-Mails auf die Smartphones der Beschäftigten abschaltet. Vattenfall will die Flut der E-Mails eindämmen, indem Empfehlungen die Mitarbeiter zu persönlichem Dialog und reflektierter Auswahl der Mail-Empfänger anhalten.
Es geht also nicht um die Entdeckung der Langsamkeit an sich. Entschleunigung ist dort angesagt, wo sie den Freiraum für Sorgfalt schafft und wo sie dazu beiträgt, menschliche Ressourcen zu erhalten.